Was ich an Gott ja besonders schätze: Gott liebt Geschichten. Echte, gute Geschichten, keine Schnulzen. Damit hat er mich schon als Kind rumgekriegt. Diese Geschichten! Von Liebespaaren wie Abraham und der kichernden Sara im Zelt. Vom Mut der Menschen, wenn sie ihrem Glauben folgen und wie Mose gegen die Knechtschaft des Pharaos auftreten: „Lass das Volk Gottes ziehen!“ Und vom Versagen der Menschen, wenn es wirklich darauf ankommt, wie Petrus in der Nacht des Verrats: „Ich werde Dich nicht verleugnen.“ Oder die Wunder und Gleichnisse Jesu: kreative Bomben – PUFF -, die im Kopf platzen und an Stelle frommer Lehr-Gebäude weite Freiräume für den Glauben schaffen. Man stelle sich nur einmal vor, wie die Bibel wohl ausgesehen hätte, wenn sie von den kirchlichen Moral-Ausschüssen späterer Jahrhunderte abgefasst worden wäre – gleich welcher konfessioneller Couleur: „Gott schuf Adam und Eva. Und die beiden lebten alle Tage glücklich und zufrieden und züchteten Lebens- und Apfelbäume in Eden. Und da sie ja nicht sterben konnten, leben sie noch heute. Amen.“ Gott liebt Geschichten, echte, gute Geschichten – weil er Menschen liebt. Menschen, die sich trauen zu leben, die sich um Kopf und Kragen leben, die sich verwirren, verirren, verlaufen, zerraufen, verrennen, zertrennen – und so früher oder später alle in der Wüste landen. Oder im Bauch des Wals. Oder in der Tiefe des Brunnens. Und dort begegnen sie dann Gott. Denn Gott ist ein Meister in Quer-, Holz- und Umwegen. Davon handeln die biblischen Geschichten – wie alle guten Liebes- und Lebensgeschichten. Reiner Kunze hat ein Liebes- und Lebensgedicht geschrieben, das etwas von diesen Erfahrungen der biblischen Geschichten widerspiegelt:
„Rudern zwei ein Boot“ · Von Reiner Kunze)
Rudern zwei / ein boot, der eine / kundig der sterne, der andere / kundig der stürme, wird der eine / führn durch die sterne, wird der andere / führn durch die stürme, und am ende / ganz am ende wird das meer / in der erinnerung / blau sein.
„Der eine kundig der Sterne“:
Es gibt Menschen, die auch als Erwachsene noch so viel Chaos in sich haben, dass sie einen „tanzenden Stern gebären“ können (Nietzsche). Sie haben eine Sternen-Kunde der besonderen Art. Sie sehen Sterne, die andere nicht mehr wahrnehmen können. Und sie folgen diesen Sternen wie die Weisen aus dem Morgenland auch noch nach. Das hat mich immer fasziniert. „Eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.“ (Joel 3,1) Die Bibel ist voll von Träumerinnen und Träumern wie Abraham, als er zu den Sternen aufblickt, Jakob, als er die Himmelsleiter sieht, oder Maria, der Mutter Jesu, als sie auf die Worte des Engels hört und ihm vertraut. Das Leben verläuft für diese Menschen dann oft anders, als sie es sich dachten. Und oft ist auf ihrem Lebensweg mehr Wüstensand als Sternenstaub. Doch sie lassen sich ihren Sternen-Sinn, ihre Hoffnung und ihren Glauben nicht rauben. Auch in den Wüstenzeiten lassen sie Gott nicht so einfach davonkommen. Und vor allem: er sie nicht.
„Der andere kundig der Stürme“:
Und es gibt die anderen Menschen, die eine besondere Sturm- und Alltagskompetenz besitzen. Menschen mit der großen Gabe, bei den vielen Aufgaben, die gleichzeitig zu erledigen sind, eine ruhige Hand zu behalten – auch wenn es stürmt und windig wird. Menschen, bei denen Gott, als er ihre Hände schuf, sich wirklich besonders viel Mühe gegeben und dort einfach etwas Intelligenz mit eingebaut hat. Menschen, die mit ihren Händen denken können. Typen wie den Fischer Petrus, der irgendwie immer wieder das Falsche sagt, aber doch auf Jesu Weg von Anfang bis Ende mitgeht. Oder Martha, die sich anders als ihre Schwester darum kümmert, dass alles läuft. Doch auch mit einer hohen Sturm- und Alltagskompetenz ist es oft nicht einfach, mit dem Leben klar zu kommen. Es ist vielmehr oft ausgesprochen schwer zu arbeiten, zu schaffen, anzupacken und dennoch die eigenen Wünsche, Hoffnungen und den Glauben nicht zu verlieren. Dazu braucht es das Zusammenspiel mit den traumbegabten, aber leider eben oft auch schrecklich unpraktisch veranlagten anderen.
„Wird der eine / führn durch die sterne, wird der andere / führn durch die stürme“: Nur beide zusammen vermögen es, das Boot durch Stürme und Sterne zu steuern. Dazu braucht es den Respekt voreinander – und Konzilianz. Ein herrlich altertümliches Wort für eine Haltung der Versöhnlichkeit, der Bereitschaft, nach Kompromissen zu suchen und dafür, dass man sich, auch wenn man sich notwendigerweise streitet, trotzdem weiter in die Augen sehen kann.
Dass die gemeinsame Geschichte gut ausgeht und das Meer am Ende, ganz am Ende in der Erinnerung blau sein wird, liegt dabei nicht in der eigenen Hand. Das ist letztlich Gottes Sache. Auch mit aller Konzilianz, Sternenkunde und Sturmkompetenz kann man das Meer nicht blauer und die Liebe zueinander nicht wahrer machen. Und wir brauchen es auch nicht. Das Blau des Meeres ist ein Spiegel des Himmels. Und unsere Liebe zueinander ein Spiegel der Liebe Gottes. So sehr wir uns auch mühen, werden wir mit unseren Schrammen, Macken, Kanten immer aneinander scheitern und schuldig bleiben. Aber Gott versteht es, auch unsere krummen Seiten ins rechte Licht zu rücken. Alice Munroe hat dieses tiefe Gottvertrauen und die Glaubensgewissheit in ihrem Buch „Liebesleben“ einmal auf den Satz gebracht: „Das Leben bringt immer etwas anderes, als man denkt. Aber es ist gut.“ „Und am Ende, ganz am Ende wird das Meer in der Erinnerung blau sein.“ Das ist Sache der kreativen Liebe Gottes. Mit Himmelsblau kennt er sich aus. Und mit guten Geschichten.
Aus: Theologische Impulse von Dr. Thorsten Latzel
Theologischer Impuls 37
Dr. Torsten Latzel ist Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung
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